Anichstraße

Stadtteil Zentrum 

Jänner 2008 – © Thomas Kleissl

Anichstraße 1

In der Anichstraße 1 bewohnte die Familie Julius und Emma Pasch, geb. Schneider gemeinsam mit ihren sechs Kindern Hilde, Edith, Janne (Marianne), Hans, Gerda und Ruth den dritten Stock des „Zelgerhauses“. Julius Pasch, ein ehemaliger Präsident der jüdischen Kultusgemeinde, besass zwei Schuhgeschäfte in der Maria-Theresien-Straße 13 sowie 17-19 und führte diese gemeinsam mit seiner Frau.

Nach der Machtübernahme der NSDAP kam es zur Arisierung des Schuhhauses Julius Pasch. Schliesslich wurden am 1. November 1938 das Ehepaar und die zwei jüngsten Kinder Gerda und  Ruth aus ihrer Wohnung vertrieben und bei Anna Seidl und Adolf Neumann in deren Wohnung in der Andreas-Hofer-Straße 29  einquartiert, wo sie in der Pogromnacht von Tätern aufgesucht wurden.

Maria-Theresien-Straße 13 – Schuhgeschäft Julius Pasch, 1938 (a)

Die vier älteren Geschwister Hilde, Edith, Janne und Hans hatten Innsbruck kurz nach dem Anschluss verlassen und reisten meist einzeln nach Italien, Frankreich, England, Spanien und Kuba. Die Eltern und ihre zwei jüngsten Töchter kehrten Ende November 1938 Innsbruck den Rücken. Während Gerda und Ruth in ein englisches Internat geschickt wurden, reisten Emma und Julius Pasch über Italien, Frankreich und Spanien nach Kuba. Schlussendlich kam es in New York zu einem Wiedersehen der gesamten Familie. Julius starb 1946 und Emma 1952.

Familie Emma und Julius Pasch (b)


März 2017 – © Thomas Kleissl

Anichstraße 3

Julius und Rosa Meisel wohnten in der Anichstraße 3. In der Pogromnacht war das Ehepaar aber in der Pension Kappelsberger in der Templstraße 8 . Dort wurden beide bei mehreren Überfällen verletzt. Julius und Rosa Meisel wurden 1942 von Wien nach Polen deportiert und ermordet. Bereits im Juni 1938 wanderte Marcel Meisel, der Neffe von Julius, nach England aus.

Das „Modenhaus Julius Meisel“ mit gleicher Adresse wurde wie die meisten Auslagen der jüdischen Geschäfte nach dem Anschluss im März 1938 beschmiert, im Juni 1938 arisiert und von „Rabitsch & Richter“ übernommen.

Anichstrasse 3 – Modenhaus Julius Meisel (c)


November 2008 – © Thomas Kleissl

Anichstraße 5

Ing. Josef Adler, Oberbaurat der Bundesbahnen und Schwager des ermordeten Richard Berger, wurde zusammen mit seiner Frau Gertrude, geb. Weiss und seinem Vater Itzig (Isidor) Adler in deren Wohnung im 1. Stock in der Anichstraße 5 von acht bis zehn SA-Männern überfallen. Dem seit einem Jahr an einem Gehirntumor leidenden Josef Adler werden durch Schläge auf den Kopf schwere Verletzungen zugefügt, sodaß eine halbseitige Lähmung zurückbleibt. Vater Isidor wird geschlagen und seiner Frau Gertrude durch Fausthiebe eine Gehirnerschütterung zugefügt. Nach cirka zehn Minuten ziehen die Täter wieder weiter. Aufgrund der Verletzungen sehen die eintreffenden Gestapobeamten von einer Verhaftung der beiden Juden ab. Das durch den Lärm aufgewachte Hausmeisterehepaar Florian und Ida Nenning helfen der Familie Adler, eine versuchte Anzeige bei der Polizei wird jedoch ignoriert. Der gerufene Arzt Dr. Helmut Scharfetter lässt Josef Adler in die psychiatrische Abteilung der Klinik überstellen, wo dieser von Dr. Walter Köllensperger betreut wird. Trotz zweimonatigem Klinikaufenthalt verbessert sich der Gesundheitszustand von Josef Adler nicht. Für eine Operation wird er nach Wien überstellt, wo er am 23. Jänner 1939 an den Folgen der erlittenen Verletzungen stirbt. Er wird am Zentralfriedhof in Wien begraben. Er war Mitglied des Kultusrates und einer der Anführer der zionistischen Ortsgruppe.

Während Gertrude Adler im August 1939 die Flucht nach London gelingt, stirbt ihr Schwiegervater Isidor am 25. Juli 1942 im KZ Theresienstadt. Felix Adler, der Sohn der Familie, flüchtete bereits vor dem Pogrom nach Palästina.

Josef Adler, 1937 (d)


Anichstrasse 7

März 2017 – © Thomas Kleissl

Anichstraße 7

In der Anichstraße 7 befand sich die von Michael Brüll gegründete Möbel-Fabrik und die Wohnungen seiner Kinder. In der Pogromnacht wurden Rudolf Brüll und Julie Brüll, geb. Steinharter, die Eltern von Ilse Brüll durch Faustschläge und Fußtritte verletzt.

Im 2. Stock lebte Josef Brüll mit seiner Frau Antonie Brüll, geb. Wasserer und deren Tochter Inge. Die Türe zur Wohnung wurde mit einer Hacke gewaltsam geöffnet. Josef Brüll wurde durch Fußtritte im Gesicht verletzt und zusammen mit seinen Brüdern Rudolf und Franz von der Gestapo verhaftet.

Möbelfabrik Michael Brüll, Anichstraße 7, 1938 (e)

Ein Großteil der Familien Brüll übersiedelte im Jänner 1939 nach Wien. Das Ehepaar Julie und Rudolf Brüll wurde auf der Flucht aufgegriffen und überlebte das Konzentrationslager Theresienstadt. Ihre Tochter Ilse wurde 1942 in Auschwitz vergast. 1945 kehrte das Ehepaar nach Innsbruck zurück, wo Rudolf Brüll um sein Möbelhaus kämpfen musste und bis zu seinem Tod Präsident der wiedergegründeten Israelitischen Kultusgemeinde war.

Auch Franz Brüll kehrte aus dem Exil zurück.

Familien Brüll (f)

Michael Brüll (1856-1919) stammte aus Mähren und war mit der aus Innsbruck stammenden Nina Bauer verheiratet. Seit 1894 lebte das Ehepaar mit ihren neun Kindern – Leontine, Elise, Rudolf, Josef, Charlotte, Fritz, Helene, Felix und Franz – in der Anichstraße 7. Im September 1887 gründete der Familienvater das Möbelhaus Brüll – das Unternehmen hatte seinen Hauptsitz in der Anichstraße 7, während die Fabrik 1910 in die Pradlerstraße 69 ausgelagert wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg übergibt der an schwerer Polyarthritis erkrankte Michael Brüll den Betrieb an seinen ältesten Sohn Rudolf. Zusammen mit seinen Brüdern Josef und  Fritz kehrte Rudolf verletzt aus dem Krieg zurück. Michael Brüll stirbt am 4. Jänner 1919 im Alter von 62 Jahren und Fritz 1924 an den Folgen der Kriegsverletzungen. Von 1900 bis 1910 befand sich der Betraum für die jüdische Gemeinde Innsbruck im Stöcklgebäude des Brüllhauses. (Falch)



November 2008 – © Thomas Kleissl

Anichstraße 13

Ing. Richard Berger wohnte mit seiner Frau Margarethe, geb. Weiss und den Söhnen Walter und Fritz in der Anichstraße 13. Er war Vorstand der Israelitischen Kultusgemeinde, wurde 1931 zum Oberbaurat der Bundesbahnen ernannt und bekam im November 1937 von Fürst Franz I. von Liechtenstein das Ritterkreuz für seine Tätigkeit als Brückenbauingenieur verliehen.

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde er aus seiner Wohnung geholt und mit dem Auto in Richtung Zirl, ca. 2 oder 3 Kilometer hinter Kranebitten gebracht. Dort wurde er  zum Innufer geschleppt, zu Boden geworfen und mit Steinen erschlagen. Seine Leiche wurde in den Inn geworfen und später an Land gezogen. Sein Leichnam wurde nach München überstellt und dort am 15.11.1938 im Krematorium eingeäschert.

Kranebitter Innauen Oktober 2013 © Thomas Kleissl

Familie Richard und Grete Berger (g)

Während Sohn Walter im Juli 1938 nach Palästina auswanderte, gelangte der jüngere Sohn Fritz im August 1938 über Holland und Belgien zu Verwandten nach England. Grete Berger gelang 1939 die Flucht nach Palästina, wo sie die Urne ihres Mannes in einem Kibbuz begraben liess. Fritz Berger änderte seinen Namen in Frederik Benson, trat 1940 der britischen Armee bei und war 1946 an der Verhaftung von SS-Studentensturmführer Gerhard Lausegger wesentlich beteiligt.

Frederik Richard Benson, starb am 7. Juli 2007 in England. Von seinem jüngeren Sohn Richard Benson stammt folgender Gästebucheintrag vom 16. Juli 2007:

„I am Richard Benson, son of Fritz Berger. My father unfortunately died on July 9th 2007 and I was looking for contact details for the Jewish Cultural Centre so that I could advise them of what has happened. In doing so, I discovered this site and would like to say how well it has been put together and what a valuable resource it is. A big thank you to all responsible.“ Richard Benson

1980 wurde auf Initiative von Hermann Weiskopf, einem Gemeinderat der ÖVP Innsbrucker Mittelstand eine Straße im Gewerbegebiet von Neuarzl, einem Stadtteil östlich von Innsbruck, nach Richard Berger benannt, wobei die Auswahl der Straße in der Peripherie nicht dem gewünschten Ansinnen entsprach.


update 02.12.2019

Hinweise:

Valerie Neal, die Tochter von Ruth Pasch machte mich auf das Buch „To Remember Me By“ aufmerksam, in dem ihr Vater Ernst Oppenheim die Geschichte der Familie Julius und Emma Pasch publizierte. Sie stellte mir die privaten Fotos der Familien für dieses Projekt zur Verfügung und unterstützte mich bei der englischen Textfassung, wofür ich mich ausserordentlich bedanken möchte.

Joseph Adler hat mir das Foto seines Grossvaters zur Verfügung gestellt und dafür danke ich ihm.

Mein herzlicher Dank gilt Richard Benson, einem Enkel von Richard Berger, für das gemeinsame Durchblättern des Familienalbums und die zur Verfügung gestellten Fotos bzw. Dokumente.

Ingeborg Brüll, die Tochter von Josef und Antonie ist am 09.07.2011 in Innsbruck gestorben. Sie setzte sich seit Jahren für das Gedenken an ihre Cousine Ilse Brüll und für die christlich-jüdische Zusammenarbeit in Tirol ein. Von Ingeborg Brüll stammen auch alle privaten Fotos der Familien Brüll, wofür ich ihr immer dankbar sein werde. Auf der Homepage Virtuelles Haus der Geschichte Tirol gibt es ein ausführliches Videointerview mit Ingeborg Brüll. Zwei Begegnungen mit Ingeborg Brüll möchte ich gerne erwähnen: Am 05. Juni 2006 besuchten Ron und Sandra Bower Innsbruck. Ron Bower ist der Neffe des ermordeten Wilhelm Bauer, welcher mit seiner Familie in der Gänsbacherstrasse wohnte. Sein Vater Stefan Bauer wohnte mit der Mutter Flora Bauer, geb. Gold in der Andreas-Hofer-Straße. Zusammen mit Ingeborg Brüll fuhren wir zum Mahnmal am Landhausplatz, in die Gänsbacherstraße, in die Andreas-Hofer-Straße und zum jüdischen Friedhof. Am 08. September 2010 kam es zu einer ersten (Skype-)Begegnung zwischen Ingeborg Brüll und dem in Amerika lebenden David Ross. Die Ururgroßmutter von David Ross war Libussa Brüll und somit eine Tante von Ingeborg Brüll.

Literatur:

Martin Achrainer < Das Pogrom-Denkmal > in: Gabriele Rath / Andrea Sommerauer / Martha Verdorfer (Hg.), „Bozen Innsbruck – zeitgeschichtliche stadtrundgänge“, Folio Verlag 2000, S 85 – 89

Frederick Richard Benson (Fritz Berger) < Kristallnacht - The Return - An account of the events of Kristallnacht, 9th November 1938, as happened at Innsbruck, Austria, the search for my father´s murderer and my eventual success. > London 1946, transcribed from the original by Richard Benson 2008

Sabine Falch < "Palästina? Was finden wir dort? Doch nur Sand, Kamele und Araber!" - Tirols Juden und der Zionismus vor 1938 > in: Thomas Albrich (Hg.), „Wir lebten wie sie…“. Jüdische Lebensgeschichten aus Tirol und Vorarlberg, Haymon-Verlag Innsbruck 1999, S. 53 – 84

Michael Gehler < Spontaner Ausdruck des "Volkszorns"?, Neue Aspekte zum Innsbrucker Judenpogrom vom 9./10. November 1938 > in: Zeitgeschichte, 18.Jahr, Okt.1990-Dez.1991, Heft 1-12

Michael Guggenberger < "Mein Mann, der leidend war, brach gelähmt zusammen." - Rohe Gewalt gegen Ing. Josef Adler, Stefan Bauer und ihre Familien > in: Novemberpogrom 1938 in Innsbruck. Opfer und Schauplätze des Terrors – Texte, Hörstücke und ein Rundgang, www.pogrom-erinnern.at / 2019

Gretl Köfler  < Die "Reichskristallnacht" > in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.) – Widerstand und Verfolgung in Tirol 1934 bis 1945 – Österreichischer Bundesverlag Wien 1984, Band 1, S 448-462

Julia König < Ilse Brüll: "Ich gehe zu Annemarie und Evi." - Ihr Leben, ihre Flucht und ihr Tod in Auschwitz > in: Thomas Albrich (Hg.), „Wir lebten wie sie…“. Jüdische Lebensgeschichten aus Tirol und Vorarlberg, Haymon-Verlag Innsbruck 1999, S. 199 – 216

Ernst Oppenheim < To Remember Me By - First Crusade Through Holocaust - Facts, Fragments, Lore and Legends > Nobis Press

Sabine Pitscheider < Der Möbelfabrikant Michael Brüll - Gründer des "Innsbrucker Etablissements für Wohnungseinrichtung" > in: Thomas Albrich (Hg.), “ Von Salomon Sulzer bis „“Bauer & Schwarz““ – Jüdische Vorreiter der Moderne in Tirol und Vorarlberg“, Haymon Verlag 2009, S 305 -324

Wolfgang Plat < Die Ermordung Richard Bergers, in: Voll Leben und voll Tod ist diese Erde. Bilder aus der Geschichte der Jüdischen Österreicher von 1190 bis 1938, Herold Verlag im Wiener Dom - Verlag 1988, S. 266 ff

Wolfgang Plat < Ilse Brüll - Vergangen wie ein Rauch > in: Voll Leben und voll Tod ist diese Erde. Bilder aus der Geschichte der Jüdischen Österreicher von 1190 bis 1938, Herold Verlag im Wiener Dom – Verlag 1988, S. 272 ff

Horst Schreiber < Jüdische Geschäfte in Innsbruck - Eine Spurensuche > Projekt des Abendgymnasiums Innsbruck; Tiroler Studien zu Geschichte und Politik 1, herausgegeben von der Michael-Gaismair-Gesellschaft, StudienVerlag 2001, S 44-46

Horst Schreiber < Die Kontroverse um die Prof.-Franz-Mair-Gasse 1980/81 > in: Schreiber „Widerstand und Erinnerung in Tirol 1938-1998“, StudienVerlag 2000; http://www.horstschreiber.at/horst_schreiber/texte_kontroverse-franzmairgasse#f8 visit 28.06.2009

Gad Hugo Sella < Die Juden Tirols - Ihr Leben und Schicksal > Israel 1979, S 83

Sabine Sonnweber < SA-Sturmführer Ing. Heinrich Huber > in: Thomas Albrich (Hg.) „Die Täter des Judenpogroms 1938 in Innsbruck“, Haymon Verlag 2016, S 175-178

Bildnachweis:

(a, c, e) © Stadtarchiv / Stadtmuseum Innsbruck 

(b) Private ownership by Valerie Neal

(d) Private ownership by Joseph Adler

(f) Private ownership by Ingeborg Brüll

(g) Private ownership by Richard B. Benson

Quellen:

Valerie Neal – diverse Emails 2007/2008Ingeborg Brüll – diverse Interviews 2006

Richard Benson – Gästebucheintrag 16.07.2007, Email 18.06.2009, Interview 28.06.2009 Innsbruck

Joseph Adler – Email vom 20.11.2008

Videointerview Ingeborg Brüll – http://www.virtuelles-haus-der-geschichte-tirol.eu/jart/prj3/vhdgt/main.jart?rel=de&content-id=1239028816462&personen_id=1238422497570&sel-videos=y

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