Hintergründe

Novemberpogrom 1938

Der 17-jährige Jude Herschel Grynszpan, dessen Eltern Sendel und Rivka Grynszpan Ende Oktober 1938 nach Polen deportiert wurden, verübte am 7. November 1938 ein Schussattentat auf den deutschen Diplomaten und Botschaftssektretär Ernst Eduard vom Rath in der deutschen Botschaft in Paris.

Herschel Grynszpan wird unmittelbar nach der Tat verhaftet. In einer Abschiedskarte an seine Eltern vom 7. November 1938 schreibt er:

„Meine lieben Eltern! Ich konnte nicht anders tun, soll Gott mir verzeihen, das Herz blutet mir wenn ich von eurer Tragödie und 12.000 anderer Juden hören muß. Ich muß protestieren, dass die ganze Welt meinen Protest erhört, und das werde ich tun, entschuldigt mir. Herschel.“ (1)

Herschel Grynszpan, 8.11.1938 (a)

Herschel Grynszpan bei seiner Verhaftung, 7.11.1938 (aa)

Ernst Eduard vom Rath (b)

Erste Ausschreitungen

Bereits in der Nacht kommt es in Magdeburg und Kassel zu Brandlegungen von jüdischen Gebetshäusern und Überfällen. Als am Nachmittag des 9. November 1938 der Tod von Ernst vom Rath verkündet wird, läuft die Propagandamaschine auf Hochtouren. Das Attentat wird als „Anschlag des Judentums auf das deutsche Volk“ medial zelebriert, Propaganda Minister Joseph Goebbels hält eine antisemitische Hetzrede am Abend in München, wo sich die Führungsriege der NSDAP mitsamt Folgschaft zum Gedenken an den Novemberputsch 1923 versammelt hat. Adolf Hitler befürwortet „Racheaktionen“ im Hinblick auf die Beschaffungsmöglichkeiten jüdischen Vermögens zur Finanzierung der geplanten Kriegsausrüstung. (2)

Fernschreiben an alle Staatspolizeistellen von Reinhard Heydrich

SS-Obergruppenführer Reinhard Heydrich verschickt nach Mitternacht ein Fernschreiben an die Staatspolizeistellen mit dem Betreff

„Maßnahmen gegen Juden in der heutigen Nacht: Auf Grund des Attentats gegen den Leg. Sekr. v. Rath in Paris sind im Laufe der heutigen Nacht – 9./10.11.38 – im ganzen Reich Demonstrationen gegen die Juden zu erwarten. Für die Behandlung dieser Vorgänge ergehen folgende Anordnungen:

1.) Die Leiter der Staatspolizeistellen oder ihre Stellvertreter haben sofort nach Eingang dieses Fernschreibens mit den für ihren Bezirk zuständigen Politischen Leitungen – Gauleitung oder Kreisleitung – fernmündlich Verbindung aufzunehmen und eine Besprechung über die Durchführung der Demonstrationen zu vereinbaren, zu der der zuständige Inspekteur oder Kommandeur der Ordnungspolizei zuzuziehen ist. In dieser Besprechung ist der Politischen Leitung mitzuteilen, daß die Deutsche Polizei vom Reichsführer der SS. und Chef der Polizei die folgenden Weisungen erhalten hat, denen die Maßnahmen der Politischen Leitungen zweckmäßig anzupassen wären:

a) Es dürfen nur solche Maßnahmen getroffen werden, die keine Gefährdung deutschen Lebens oder Eigentums mit sich bringen (zB. Synagogenbrände nur, wenn keine Brandgefahr für die Umgebung ist).

b) Geschäfte und Wohnungen von Juden dürfen nur zerstört, nicht geplündert werden. Die Polizei ist angewiesen, die Durchführung dieser Anordnung zu überwachen und Plünderer festzunehmen.

c) In Geschäftstraßen ist besonders darauf zu achten, daß nicht jüdische Geschäfte unbedingt gegen Schäden gesichert werden.

d) Ausländische Staatsangehörige dürfen – auch wenn sie Juden sind – nicht belästigt werden.

2.) Unter der Voraussetzung, daß die unter 1) angegebenen Richtlinien eingehalten werden, sind die stattfindenden Demonstrationen von der Polizei nicht zu verhindern, sondern nur auf die Einhaltung der Richtlinien zu überwachen.

3.) Sofort nach Eingang dieses Fernschreibens ist in allen Synagogen und Geschäftsräumen der jüdischen Kultusgemeinden das vorhandene Archivmaterial polizeilich zu beschlagnahmen, damit es nicht im Zuge der Demonstrationen zerstört wird. Es kommt dabei auf das historisch wertvollere Material an, nicht auf neuere Steuerlisten usw. Das Archivmaterial ist an die zuständigen SD-Dienststellen abzugeben.

4.) Die Leitung der sicherheitspolizeilichen Maßnahmen hinsichtlich der Demonstrationen gegen Juden liegt bei den Staatspolizeistellen, soweit nicht die Inspekteure der Sicherheitspolizei Weisungen erteilen. Zur Durchführung der sicherheitpolizeilichen Maßnahmen können Beamte der Kriminalpolizei sowie Angehörige der SD., der Verfügungstruppe und der allgemeinen SS. zugezogen werden.

5.) Sobald der Ablauf der Ereignisse dieser Nacht die Verwendung der eingesetzten Beamten hierfür zuläßt, sind in allen Bezirken so viele Juden – insbesondere wohlhabende – festzunehmen, als in den vorhandenen Hafträumen untergebracht werden können. Es sind zunächst nur gesunde, männliche Juden nicht zu hohen Alters festzunehmen. Nach Durchführung der Festnahme ist unverzüglich mit den zuständigen Konzentrationslagern wegen schnellster Unterbringung der Juden in den Lagern Verbindung aufzunehmen. Es ist besonders darauf zu achten, daß die auf Grund dieser Weisung festgenommenen Juden nicht mißhandelt werden.

6.) Der Inhalt dieses Befehls ist an die zuständigen Inspekteure und Kommandeure der Ordnungspolizei und an die SD-Ober- und Unterabschnitte weiterzugeben mit dem Zusatz, daß der Reichsführer SS. und Chef der Deutschen Polizei diese polizeilichen Maßnahmen angeordnet hat. Der Chef der Ordnungspolizei hat für die Ordnungspolizei einschließlich der Feuerlöschpolizei entspr. Weisungen erteilt. In der Durchführung der angeordneten Massnahmen ist engstes Einvernehmen zwischen der Sicherheitspolizei und der Ordnungspolizei zu wahren.

Der Empfang dieses Fernschreibens ist von den Stapoleitern oder seinen Vertretern durch FS. an das Geheime Staatspolizeiamt – z.Hd. SS-Standartenführer Müller – zu bestätigen. gez. Heydrich SS-Gruppenführer“. (3)

Verharmlosung „Reichskristallnacht“

Die organisierten Übergriffe in der Reichspogromnacht richten sich gegen tausende jüdische MitbürgerInnen im Deutschen Reich. Die Zahl der Todesopfer wird auf mehrere Hundert geschätzt, offiziell werden 90 zugegeben. Zahlreiche Juden und Jüdinnen werden gedemütigt, misshandelt, eingesperrt und in Konzentrationslager deportiert. An die 1400 Synagogen und Betstuben werden zerstört und in Brand gesteckt sowie Friedhöfe geschändet. Die Einrichtungen der Wohnungen und jüdischen Geschäfte werden verwüstet. Aufgrund der unzähligen zerbrochenen Glasscheiben wird der Pogrom auch als „Kristallnacht“ oder „Reichskristallnacht“ bezeichnet, was aber einer Verharmlosung gleichkommt.

Radikale antisemitische Parteibasis versucht Volkszorn zu inszenieren

Für diese gezielten „Aktionen“ zeichnete die „radikale antisemitische Parteibasis“ verantwortlich, der erhoffte „Volkszorn“ blieb großteils aus. „Der gescheiterte Versuch, eine Volksbewegung von unten in Gang zu setzen, führte so am Ende zu einer verschärften staatlichen Unterdrückung von oben“, so Historiker Hans Mommsen. Es kam zu einer weiteren Radikalisierung der antijüdischen Politik und zum gänzlichen Ausschluss der jüdischen Bevölkerung aus dem Wirtschaftsleben. Hermann Göring erläßt am 12. November Verordnungen, wonach die Besitzer selbst die Schäden zu beseitigen haben und die aus Verischerungsansprüchen entstehenden Auszahlungen beschlagnahmt werden. Zusätzlich wird den jüdischen Gemeinden eine Strafzahlung von einer Milliarde Reichsmark auferlegt und mit 1. Jänner 1939 ein Verbot der Handelstätigkeit von Juden eingeführt. (4)

Reaktionen der Kirchen und der Presse

Nach der Reichspogromnacht reagierten viele Staaten mit Protestnoten durch ihre ausländischen Vertretungen. Papst Pius XI wollte die diplomatischen Beziehungen des Vatikans mit Deutschland unterbrechen, aber sein Staatssekretär Eugenio Pacelli, welcher 1933 massgeblich an den Verhandlungen des Vatikanischens Konkordats (Reichskonkordat) mit Hitler´s Vizekanzler Franz von Papen beteiligt war, riet ihm davon ab. Papst Pius XI erinnerte daran, dass es „nur eine menschliche Rasse gäbe“ und dass sich Christen nicht am Antisemitismus beteiligen dürften, da „spirituell gesehen, alle Semiten wären.“ Als er drei Monate nach der Kristallnacht starb, wurde Eugenio Pacelli als Papst Pius XII zu seinem Nachfolger ernannt. (5)

Vonseiten der hiesigen katholischen und evangelischen Kirchenleitungen sind keine Kommentare bzw. Proteste bekannt. (6)

Nach Berichten in englische Zeitungen wie The Times, News Chronicle, Manchester Guardian, Observer, Evening Standard, Daily Herald, Washington Post, Palestine Post sowie holländischen und Schweizer Zeitungen, empfing Joseph Goebbels am 11. November 1938 ca. 150 Vertreter der Auslandspresse, um über die Ereignisse der vorangegangen Tage eine Stellungnahme abzugeben. (7, 8)

Presse- und Radioberichte

Der 25-jährige Radiojournalist Eldon Walli, ein Illegaler der ersten Stunde, berichtet am 10. November 1938 für den Nationalsozialistischen Rundfunk live aus dem abgebrannten Leopoldstädter Tempel in Wien:

„Wien 10. November. Wir stehen mit unserem Mikrofon in dem grossen Leopoldstädter Judentempel. Ihn heute noch so zu bezeichnen ist eigentlich etwas geschmeichelt. Denn die erbitterten Einwohner, arischen Einwohner dieses Bezirkes haben nach dieser ruchlosen Tat von Paris es sich nicht nehmen lassen, um auch hier ihren abgrundtiefen Hass gegen das Judentum zu bezeigen. Der Judentempel war in wenigen Minuten ein Raub der Flammen. Und wenn wir uns jetzt hier in diesem orientalischen Kuppelbau umsehen, dann ist von dem eigentlichen Tempel, von diesem prunkvollen und mit viel Geld erbauten Gebäude nur mehr das Gerippe, das alte Gerüst übriggeblieben. Und dieses Gerüst ist schon so baufällig, dass das Wahrzeichen des Judentums auf das sie besonders in Wien so stolz waren, hoffentlich in wenigen Tagen zur Gänze mit dem Erdboden gleichgemacht wird, und zur Gänze hier in Wien verschwinden wird. Die Wiener Bevölkerung, die immer mit erbittertem Grimm in der Tempelgasse an diesem Prunkbau vorbeigegangen ist, steht jetzt auf der Strasse und jeder möchte gerne hereinsehen, möchte sich überzeugen wie es hier aussieht und ob tatsächlich alles so ist wie es ihnen ums Herz ist – nämlich so, dass man es nicht wieder aufbauen kann. … Bei uns sind die Männer der Feuerwehr, die Männer der SA und der Kreisleitung. Die Juden können es sich nur selbst zuschreiben, dass es soweit gekommen ist und das werden hier alle die hier um mich herumstehen bestätigen können. Bei uns ist der Tempeldiener, d.h. nicht der Tempeldiener – ist vielleicht schlecht ausgedrückt – sondern der Tempelportier, der bisher die Aufgabe hatte, über dieses Gebäude zu wachen. Bezeichnenderweise hat man wieder einen Arier zu diesem schönen Geschäft genommen, denn ein Jude wäre für diese tiefe und einfache Arbeit – das ist nämlich neben den elektrischen Arbeiten, die hier in diesem Hause notwendig waren und Heizer, da ist ein Jude nämlich zu schade, wissen Sie. Juden haben nur Interesse Arbeiten zu vollrichten und zu vollbringen, die möglichst wenig beschmutzte Hände verschaffen und möglichst viel Geld in den Sack bringen.“ (9)

„Das interessante Blatt“ vom 17. November 1938:

„Ein Opfer des Weltjudentums // Gesandtschaftsrat Ernst vom Rath, der den schweren Verwundungen erlag, die er durch den feigen Überfall erlitt, auf dem Totenbett. // Der Judenbengel Herschel Seibel Grünspan, der im Amtszimmer der Deutschen Botschaft in Paris auf Gesandtschaftsrat vom Rath mehrere Revolverschüsse abgab, wird zur Einvernahme auf die Polizeipräfektur gebracht. // Der Onkel und die Tante des Meuchelmörders, Abraham Grünspan und Ghana, geb. Berenbaum, bei denen der Attentäter durch mehrere Monate Unterschlupf gefunden hatte, wurden ebenfalls verhaftet. // Die schweren Verletzungen des Herrn vom Rath machten eine sofortige Bluttransfusion notwendig, zu welcher sich der Franzose Thomas (links), ein ehemaliger Frontkämpfer, zur Verfügung stellte. // Vor der Überführung des von jüdischer Mörderhand gefallenen Gesandtschaftsrates vom Rath in seine Heimat fand in der Deutschen Kirche in Paris eine offizielle Trauerfeier statt, bei der Staatssekretär von Weizsäcker die Trauerrede hielt. Links in der ersten Reihe die Eltern des Toten, ganz rechts der Vertreter der französischen Regierung Außenminister Bonnet.“

Das interessante Blatt – 17. November 1938 (c)

Schicksal von Herschel Grynszpan

Nach Aufenthalten in französischen Gefängnissen kommt Herschel Grynszpan in das KZ Sachsenhausen. Der von Goebbels geplante Schauprozess fand nie statt. Grynszpan selbst soll Gerüchten zufolge überlebt haben, wurde aber 1960 von der westdeutschen Regierung für tot erklärt. Seine Eltern überlebten die Deportation und den Holocaust und flüchteten in die Sowjetunion. Der Vater Sendel Grynszpan ist 1961 Zeuge im Prozeß gegen Adolf Eichmann.  (10)

Im März 2010 wurden von Gunter Demnig in Hannover Stolpersteine für Herschel und Esther Grynszpan (Grünspan) verlegt.

22. März 2010 – Verlegung Stolpersteine in Hannover, Foto: Axel Hindemith (d)


Novemberpogrom 1938 in Innsbruck

Am Abend des 9. November 1938 fand im Stadttheater Innsbruck und am Adolf-Hitler-Platz (heute Platz vor dem Tiroler Landestheater) die erste Feier zum Gedenken an die Toten des Novemberputsches 1923 und eine Vereidigung von SS-Angehörigen statt.

„…..Die Feierstunde im Stadttheater
Der Zuschauerraum der Städtischen Bühne hatte sich unterdessen dicht gefüllt. Der aus dienstlichen Gründen abwesende Gauleiter wurde vom stellvertretenden Gauleiter Pg. Parson vertreten; mit dem Kreisleiter Pg. Hanak waren sämtliche in Innsbruck anwesenden politischen Leiter, Gliederungsführer, Vertreter der Wehrmacht, des Staates, der Stadt sowie der Gendarmerie und Polizei erschienen. Als sich an der Rückwand der festlich geschmückten Bühne die Fahnen der Bewegung und davor eine Schar Hitlerjungen und ein Fanfarenzug des Jungvolkes aufgestellt hatten, wurde die Feier mit Richard Wagners Lohengrin-Vorspiel eröffnet. Einem Kampflied der HJ folgten Gedenksprüche, die von Hitlerjungen gesprochen wurden, und die Verlesung der Namen der 16 Toten von der Feldherrnhalle, sowie der 5 Blutzeugen der Bewegung im Gau Tirol-Vorarlberg: Silvester Fink, Josef Kantner, Franz Dornauer, Josef Honomichl und Friedrich Wurnig. ….“

„….Die Vereidigung der SS-Angehörigen
Es ist 24 Uhr. Wieder leuchten die Opferschalen in flammendem Schein. Die SS der Standarte Innsbruck und Hall steht dicht aufgeschlossen vor dem Mahnmal auf dem Adolf-Hitler-Platz. Davor die Fahne, SS-Oberführer Feil und die Führer aller Gliederungen der Bewegung, die Vertreter von Staat und Wehrmacht. Nun setzt die Übertragung von München ein, wo vor dem Führer die Rekruten der SS-Verfügungstruppen und der Totenkopfverbände zur feierlichen Vereidigung Aufstellung genommen haben. So wie in München und in Innsbruck, stehen nun im weiten Großdeutschen Reiche die Angehörigen der SS und harren des großen Augenblicks, wo sie dem Führer das Gelöbnis unverbrüchlicher Treue bis in den Tod werden ablegen dürfen…“ Deutsche Volkszeitung, 10.11.1938  (11)

Versammlungen der SS, SA und NSKK im Landhaus, Salurner Straße 11, Bürgerstraße 10 und am Bozner Platz

Um 1:00 Uhr kommt Gauleiter Franz Hofer im Landhaus in Innsbruck an und bespricht mit SS-Oberführer Johann Feil, SS-Untersturmführer Dr. Adolf Franzelin, SS-Untersturmführer Gustav Fast, SS-Hauptsturmführer Dr. Leopold Spann, SA-Standartenführer Johann Mathoi, SA-Brigadeführer Vinzenz Waidacher und Arisierungsbeauftragter Hermann Duxneuner das weitere Vorgehen gegen die jüdische BevölkerungBei den bereits im Gang befindlichen Treffen der SS in der Saluner Straße 11, der SA in der Bürgerstraße 10 und der NSKK am Bozner Platz werden die in Zivilkleidung erschienenen Mitglieder in Gruppen eingeteilt und mit Adresslisten ausgestattet.

Innsbruck war einer der blutigsten Schauplätze

Der darauffolgende Pogrom war in Innsbruck neben Wien im Verhältnis zu seiner Bevölkerungszahl und zur Größe der jüdischen Gemeinde eine der blutigsten Schauplätze. Richard Berger, Wilhelm Bauer und Richard Graubart wurden in dieser Nacht ermordet und viele schwer verletzt, darunter Josef Adler, Itzig Adler, Flora Bauer und ihr Sohn StefanKarl Bauer, Rudolf und Julie Brüll, Berta Dannhauser, Ephraim und Mina Diamand, Eduard Fuchs, Arthur Goldenberg, Alfred Graubart, Julius Meisel, Friedrich und Dora Pasch, Julius und Laura Popper, Louis Rado, Helene Rosenstein und ihr Sohn Fritz, Hugo Schindler, Richard Schwarz und sein Sohn Viktor sowie Wolf Meier Turteltaub und sein Sohn FritzJosef Adler erlag seinen Verletzungen zwei Monate später. 18 Männer wurden vorübergehend in Schutzhaft genommen, unter ihnen Franz Brüll, Rudolf Brüll, Josef Brüll, Bernhard Diamand, Ephraim Diamand, Friedrich Pasch, Fritz Rosenstein, Richard Schwarz, Wolf Meier Turteltaub und Fritz Turteltaub. Die Wohnungen der meisten damals noch nicht ausgewanderten Juden und Jüdinnen schwer beschädigt, zwei Geschäfte geplündert sowie die Einrichtung der Synagoge zerstört. Die Innsbrucker Bevölkerung beteiligte sich an den Übergriffen nicht.

Am 11. November wird in der Nähe von Innsbruck in Neu-Arzl die Leiche einer Frau aus dem Inn geborgen. Es handelte sich um der aus Garmisch-Partenkirchen stammenden und dort vertriebenen 82-jährigen Jüdin Klara Kohtz, die sich zusammen mit ihrer 51-jährigen Tochter Lotte am 10. November aus Verzweiflung in Innsbruck das Leben nehmen. Erst am 12. Juni 1939 wird der Leichnam von Lotte Kohtz in der Nähe von Kundl im Inn gefunden.

Außerhalb von Innsbruck kam es in Tirol nur in Ehrwald zu Ausschreitungen. In der Nacht von 12. auf 13. November überfielen vier Personen die Pension „Sonnblick“ in Ehrwald Nr. 289, heute Wettersteinstraße 35 und zerstörten Fenster, Türen und Einrichtungsgegenstände. Die Pension wurde von Dipl.-Ing. Andor Steinacker und seiner jüdischen Frau geleitet.

In Hohenems kam es in der Pogromnacht auf die wenigen noch dort lebenden Juden und Jüdinnen zu keinen Übergriffen. Von der In-Brand-Setzung der Synagoge wurde aufgrund der Gefahr, dass sich das Feuer auch auf angrenzende, arisierte Wohnungen ausbreiten hätte können, abgesehen. Die Fenster der Synagoge wurden zerstört, das Inventar zum Teil entwendet und beschlagnahmt. Der jüdische Friedhof wurde von Angehörigen der Hitlerjugend geschändet. (12)

Presseberichte

Am 11. November 1938 erschien in der Neusten Zeitung Nr. 257, 26. Jg. folgender Artikel:

„Die Synagoge in Innsbruck zertrümmert

Die feige Bluttat des Mordbuben Grünzspan in Paris hat in allen Teilen des Reiches zu schweren Kundgebungen gegen die Hebräer geführt. Wie in allen deutschen Städten ist es auch in Innsbruck zu ähnlichen Zusammenstößen gekommen. Die berechtigte und verständliche Empörung hat auch in unserer Stadt zu Ausschreitungen geführt, die durch ihren elementaren Ausbruch der zutiefst erregten Bevölkerung Opfer gefordert hat. / Unter anderem wurde die jüdische Synagoge in der Straße der Sudentendeutschen von einer Menschenmenge in der Nacht zum Donnerstag gestürmt und im Innern zerstört. Die Menge zertrümmerte in ihrer berechtigten Wut über die erbärmliche Blutbad die Einrichtungsgegenstände des jüdischen Hauses und machte in erregten Rufen gegen die Juden ihrer verständlichen Empörung Luft. / Auch die wenigen noch nicht entjudeten Geschäfte fielen dieser Empörung zum Opfer. Zwei Innsbrucker Judengeschäfte wurden in den frühen Morgenstunden des Donnerstags gründlich zerstört. / Um weitere Ausschreitungen zu verhindern, mußte eine Reihe von Juden in Schuzhaft genommen werden. / Die Erklärung der Reichsregierung, durch gesetzliche Maßnahmen das brennende Problem dieser unerwünschten Gäste zu lösen, macht künftige Ausschreitungen überflüssig. Die Bevölkerung wird diszipliniert diese Maßnahmen zur Kenntnis nehmen und nach ihr handeln. Im übrigen ist durch die großen Fortschritte der Entjudungsaktion gerade Innsbruck und damit unser Gau in der glücklichen Lage, in allerkürzester Zeit von jeglicher jüdischen Belastung endgültig befreit zu werden.“ (13)

Konsequenzen für die Tiroler Juden und Jüdinnen

Nach der Pogromnacht wurden fast alle Tiroler Juden nach Wien ausgewiesen. Aufgrund eines Befehls von Goebbels wurden Ermittlungen durch die Staatsanwaltschaft verhindert, sodass die Betroffenen keine Rechtsmittel in Anspruch nehmen konnten. (13)

Erst nach dem Krieg wurden die Ereignisse rund um die Pogromnacht neu aufgerollt und es kam teilweise zu Verhaftungen und Verurteilungen durch das Volksgericht beim Landesgericht Innsbruck. Keiner der vor Gericht gebrachten Täter wurde wegen Mordes verurteilt. >>> Nachkriegsjustiz


update 31.10.2021

Literatur:

Martin Achrainer < Das Pogrom-Denkmal > in: Gabriele Rath / Andrea Sommerauer / Martha Verdorfer (Hg.), „Bozen Innsbruck – zeitgeschichtliche stadtrundgänge“, Folio Verlag 2000, S 85 – 89

Thomas Albrich (Hg.) < Die Täter des Judenpogrom 1938 in Innsbruck > Haymon Verlag Innsbruck-Wien 2016

Thomas Albrich / Michael Guggenberger < "Nur selten steht einer dieser Novemberverbrecher vor Gericht" - Die strafrechtliche Verfolgung der Täter der so genannten "Reichskristallnacht" in Österreich > in: Thomas Albrich / Winfried R. Garscha / Martin F. Polaschek (Hrsg.), Holocaust und Kriegsverbrechen vor Gericht – Der Fall Österreich, StudienVerlag 2006, S 26-56

Christoph W. Bauer < Graubart Boulevard > Haymon Verlag Innsbruck-Wien 2008

Martin Gilbert < Kristallnacht. Prelude to Destruction > Harperperennial 2007

Michael Guggenberger < Der Freitod von Klara und Lotte Kohtz > in: Novemberpogrom 1938 in Innsbruck. Opfer und Schauplätze des Terrors – Texte, Hörstücke und ein Rundgang, www.pogrom-erinnern.at / 2019

Josefine Justin < Die Reichskristallnacht in Innsbruck > in: Innsbrucker Stadtnachrichten, Nr. 11, 20.11.1985, S 24

Constanze Kinder < Vor aller Augen - 1938: "Reichspogromnacht" > in: Deutschland unter dem Hakenkreuz, Teil 2, 1937-1939 GEO Epoche Nr. 58/2012, S 110-128

Richard Tipp < Vom Antisemtismus zum Holocaust - Auch das Außerfern war keine "Insel der Seligen" > in: Extra Verren 2010, Jahrbuch des Museumsvereins des Bezirkes Reutte, S 173-188

Stefan Moritz < Grüß Gott und Heil Hitler - Katholische Kirche und Nationalsozialismus in Österreich > Picus Verlag Wien 2002, S 111ff

Horst Schreiber < "Der Völkermord an den Jüdinnen und Juden" > in: Nationalsozialismus und Faschismus in Tirol und Südtirol – Opfer . Täter . Gegner, Tiroler Studien zu Geschichte und Politik, Michael-Gaismair-Gesellschaft, StudienVerlag 2008, S 249-277

Lutz van Dijk < Der Attentäter - Herschel Grynszpan und die Vorgänge um die Kristallnacht > rororo rotfuchs 1988

Bildnachweis:

(a) Herschel Grynszpan – http://data.onb.ac.at/rec/baa356356 / (aa) http://data.onb.ac.at/rec/baa1253126 – last visit 15.03.2018

(b) Ernst Eduard vom Rath – http://data.onb.ac.at/rec/baa1244392 – last visit 15.03.2018

(c) „Ernst vom Rath – ein Opfer des Weltjudentums“, in: Das interessante Blatt, 57. Jhg., Nr. 46, 17.11.1938, Seite 5; Österreichische Nationalbibliothek, ANNO – Historische österreichische Zeitungen und Zeitschriften – http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=dib&datum=19381117&seite=5&zoom=26 – last visit 13.01.2017

(d) Stolpersteinverlegung für Esther und Herschel Grünspan in Hannover am 22. März 2010, Foto Axel Hindemith, Wikipedia – https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Stolperstein_Grünspan_verlegt.jpg – last visit 13.01.2017

Quellen:

(1) Lutz van Dijk < Der Attentäter >

(2, 4) DIE ZEIT Geschichte – 1938 Abschied von der Zvilisation, Nr. 4/2008 – Hans Mommsen

(3) NS-Archiv, Dokumente zum Nationalsozialismus – http://www.ns-archiv.de/verfolgung/pogrom/heydrich.php – last visit 13.01.2017

(5, 7) Martin Gilbert < Kristallnacht, Prelude to Destruction > Harperperennial 2007

(6, 13) „Novemberpogrome 1938“, in: Wikipedia – http://de.wikipedia.org/wiki/Novemberpogrom_1938 – last visit 13.01.2017

(8) „Legal, aber hart wird die Antwort sein“, in: Das kleine Volksblatt 1938, Nr. 312, 12.11.1938, Seite 2; / Österreichische Nationalbibliothek, ANNO – Historische österreichische Zeitungen und Zeitschriften – http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=dkv&datum=19381112&seite=2&zoom=33 –  – last visit 13.01.2017

(9) Niederschrift eines Ausschnittes der Radiosendung vom 10.11.1938 – Quelle: Hörspuren – Audio-Guides Wien 1938

(10) „Herschel Grynszpan> in: Wikipedia – http://de.wikipedia.org/wiki/Herschel_Grynszpan – last visit 13.01.2017

(11) „Arbeitsgemeinschaft Tiroler Komponisten: NS-Zeit“ –  http://www.musikland-tirol.at/ARGE-NS-Zeit/ploner/1941-42/erinnerungsfeste/index.html – Deutsche Volkszeitung vom 10. November 1938, Seite 7 – Dem Gedächtnis der Toten, Die erste Feier des 9. November in Innsbruck

(12) „Der Novemberpogrom in Vorarlberg – Die Ereignisse in Hohenems im Kontext der NS-Verfolgung“ – in: https://www.erinnern.at/bundeslaender/vorarlberg/bibliothek/dokumente/der-novemberpogrom-in-vorarlberg-die-ereignisse-in-hohenems-im-kontext-der-ns-verfolgung – last visit 31.10.2021

(13) „Die Synagoge in Innsbruck zertrümmert.“ in: Neueste Zeitung 1938, Nr. 257, 11.11.1938, 26. Jg. – Stadtarchiv Innsbruck

pogrom-erinnern.at– Projekt von erinnern.at_Tirol und Israelitischer Kultusgemeinde für Tirol und Vorarlberg zum Novemberpogrom in Innsbruck. Virtueller Rundgang mit Bild, Ton und Text zu den einzelnen Schauplätzen.

Garmisch-Partenkirchen und seine jüdischen Bürger – 1933-1945 – Klara, Lotte und Reinhold Kohtz – https://gapgeschichte.de/juden_in_gap_biographien/kohtz_klara_lotte_reinhold.htm

Österreichische Mediathek – http://www.oesterreich-am-wort.at/playlist/action/single/playlist/878

Hörfeature von Johannes und Matthias Breit

In einem Hörfeature von Johannes und Matthias Breit aus dem Jahr 2007 sind Auszüge der Radiosendung von Eldon Walli am 10. November 1938 für Nationalsozialistischen Rundfunk sowie Schilderungen zu den Erlebnissen des Novemberpogroms 1938 in Innsbruck zu hören. Ich danke Matthias Breit für die Verwendung.

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